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Die Bösen Wölfe mit Adam Krzeminski

Das Klischee, dass Polen klauen,
ist überholt

Ein Interview der Schülerreporter des Bösen Wolfes mit Adam Krzeminski
polnischer Journalist und großer Kenner der deutschen und polnischen Geschichte

 

interview mit Adam Krzeminski


Wo haben Sie Deutsch gelernt?

Adam Krzeminski: In der Schule. Ich habe keine deutsche Familie, keine Tante, nicht einmal einen Schäferhund.

Und wann haben Sie angefangen, sich für Deutschland zu interessieren?

Adam Krzeminski: Das Interesse kam dadurch, dass ich meine Kindheit in Breslau, auf Polnisch Wroclaw, in den 50er Jahren verbracht habe. Meine Eltern wurden nach Breslau vertrieben. Dort habe ich in unserem Haus, das früher von Deutschen bewohnt war, deutsche Inschriften gesehen, wie kalt, warm oder Briefe. Das Interesse kam wahrscheinlich daher. Abgesehen davon hat man in der Schule natürlich gelernt, wie „schrecklich“ diese Nachbarn waren und die Neugierde war da, zu wissen, wie sie tatsächlich denn waren. Ich erinnere mich, meine Mutter hat mir, als ich sieben oder acht Jahre alt war, vier Hefte für Kinder mitgebracht, ein russisches, ein französisches, ein englisches und ein deutsches. Sie fragte, welche Sprache möchtest du lernen und ich sagte Deutsch. Später, an der Universität, fragte mich die Professorin bei meiner Aufnahmeprüfung, warum ich Germanistik studieren möchte. Ich sagte, ich will wissen, was uns unterscheidet und worin wir uns ähnlich sind.

Geteiltes Polen Wie war es in Ihrer Familie, welches Bild hatte man von den Deutschen?

Adam Krzeminski: Im 19. Jahrhundert war Polen als Staat nicht existent: Im 18. Jahrhundert wurde es zwischen Preußen, Russland und Österreich aufgeteilt. Meine Familie kam aus dem russischen Teilungsgebiet, aus der Warschauer Umgebung. Die Erzählungen in der Familie über die Deutschen betrafen den Zweiten Weltkrieg und waren auf keinen Fall etwas Sympathisches.

Und trotzdem haben Sie Deutsch gelernt?

Adam Krzeminski: Als ich mich für Deutsch entschied, sagte meine Mutter, das sei eine gute Wahl, denn man müsse die Sprache des Nachbarn, nicht des Feindes kennen. Das heißt, meine Eltern waren nie antirussisch oder antideutsch, sie haben den Hass ihrer Generation nicht auf ihre Kinder übertragen und das war richtig. Es war natürlich ganz anders in der Schule und in den Medien.

Gab es Vorurteile gegenüber Deutschen in Polen?

Adam Krzeminski: Natürlich, Vorurteile helfen einem dabei, etwas Fremdes kennenzulernen und es zu verstehen. Wir kommunizieren über Klischees. Ihr habt auch Klischees über uns, über Amerika, über China und Russland. Das ist ungefährlich. Gefährlich wird es, wenn man bei den Klischees hängen bleibt.

Kniefall Willy Brandt Wie hat sich das Bild der Deutschen in Polen entwickelt?

Adam Krzeminski: Im Vergleich zu meiner Kindheit und heute ist es enorm. Die Meinungsumfragen zeigen, dass seit den 1980er Jahren die Sympathiewerte für Deutschland und für Deutsche eindeutig gestiegen sind. Grund dafür ist die Ostpolitik -– der Kniefall in Warschau 1970 vom ehemaligen Bundeskanzler Willy Brandt und seine Anerkennung der damaligen Grenzen. Das ist ein langer Prozess der Versöhnung gewesen, mit Höhen und Tiefen. Aber im Grunde gab es doch die Tendenz, sich zum Nachbarland zu öffnen, statt sich ihm zu verschließen. Es war wie eine Selbstbefreiung der Polen von der alten Angst, dass ihre Grenzen wieder in Frage gestellt werden könnten.

Fußball Es geht immer um Politik!

Adam Krzeminski: Nicht immer, es gab auch bei der WM 1974 in Deutschland die Sympathie für die polnische Fußballmannschaft, die damals nicht schlecht spielte: Sie belegte unerwartet den dritten Platz. Und dann die enorme Hilfe seitens der Deutschen, die Millionen von Hilfspaketen schickten, als in Polen 1981 der Kriegszustand gegen die Solidarnosc ausgerufen wurde. Generell gab es eine Sympathie- und Solidaritätswelle in Westdeutschland, aber auch in der DDR.

Was war Solidarnosc?

Adam Krzeminski: Die Solidarnosc war die Folge eines Generalstreiks im Sommer 1980, der in Danzig an der Küste ausbrach. Innerhalb von drei Wochen stand das ganze Land still. Zum ersten Mal im Ostblock. Es hatte zwar schon Revolten gegeben, zum Beispiel 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn. Da sie aber unorganisiert waren, dauerte es zwei Tage, bis sowjetische Panzertruppen einmarschierten. 1968, in der Tschechoslowakei, rollten nicht nur die sowjetischen Panzer, sondern auch die von anderen Ostblockstaaten nach Prag. Polen war das größte Land im Ostblock. Zum ersten Mal gab es einen Generalstreik, es war keine Demonstration auf der Straße, sondern eine sehr disziplinierte Bewegung.

Was war anders?

Adam Krzeminski: Diese Bewegung hatte ihre Vorgeschichte. Wichtig war der Besuch des polnischen Papstes ein Jahr davor, also 1979. Millionen von Menschen gingen zu Freilichtmessen - sehr diszipliniert. Und der Staat war nicht präsent. Mit dem Vatikan war ausgemacht, dass die Kirche die Ordnerdienste übernimmt. D.h. die Menschen in Polen hatten gelernt, sich selbst zu organisieren. Bei dem Streik 1980 ging das auf. Solidarnosc Und dann haben sie sich durchgesetzt?

Adam Krzeminski: Die Staatsmacht wurde gezwungen, durch diesen Generalstreik die Solidarnosc anzuerkennen. Die Gewerkschaft entstand überall, in allen Betrieben. Es waren zwischen acht und zwölf Millionen Mitglieder in einem Staat von fast 40 Millionen Einwohnern. Jeder Vierte war ein Mitglied der Gewerkschaft Solidarnosc! Familien wurden zum Teil gespalten: der eine war Mitglied der Solidarnosc, der andere nicht. Es ging ein Jahr gut, dann kam es zum Kriegszustand. Etwa 6.000 Führungsmitglieder wurden interniert. Trotzdem überlebte diese Untergrundstruktur Solidarnosc und schon nach drei, vier Jahren konnte man sehen, dass es eine Gegenmacht im Lande gibt, die nicht wegzudenken ist. Das war einmalig im ganzen Ostblock.

Was heißt eine Gegenmacht?

Adam Krzeminski: Die Solidarnosc-Mitglieder waren nicht geheim. Sie waren zwar illegal, aber sie trafen sich offen in kirchlichen Räumen und arbeiteten an alternativen Modellen zur Entwicklung des polnischen Staates, der Gesellschaft, der Wirtschaft, der Kultur usw. Nachdem Gorbatschow an die Macht kam und selbst die Sowjetunion von oben reformieren wollte, da hatte Polen schon Gegenmodelle ausgearbeitet. Es war auch ein Vorteil für die Reformzeit in den 1990er Jahren nach der Auflösung der Sowjetunion und der Ostblockstaaten.

War das eine Arbeiterbewegung?Demonstrieren

Adam Krzeminski: Das waren nicht nur Arbeiter. Diese Verbindung der Arbeiter und der Intellektuellen war etwas Einmaliges. Bislang waren die Arbeiter und die Intellektuellen getrennt. Die Intellektuellen waren gegen die Zensur, die wollten Freiheiten. Die Meinungsfreiheit schätzten sie vor allem. Die Arbeiter dagegen wollten bessere Arbeitsbedingungen, bessere Löhne, eine bessere Behandlung. In Polen sind die beiden Bewegungen parallel gelaufen ohne Kontakt zueinander.

Arbeiter und Intellektuelle Wie haben sie sich dann angenähert?

Adam Krzeminski: Als der Streik 1980 in Gdansk begann, akzeptierten die Werftarbeiter die Intellektuellen, die dorthin geeilt waren und sich anboten als Berater. Die Intellektuellen sagten: Ihr seid die Macht, aber wir können euch dort und dort und dort helfen. Wenn ihr unsere Hilfe wollt, dann stehen wir zur Verfügung. Sie sind dort in dieser Nacht geblieben, seitdem waren sie nicht nur glaubwürdig, sondern die Führung der Arbeiter hat sie akzeptiert und bei den Verhandlungen später waren sie auch da.

Waren Sie auch dabei?

Adam Krzeminski: Ich war nirgendwo. Bei uns in der Redaktion waren 13 Leute in der Solidarnosc. Ich habe meinen Kollegen erklärt, ich stehe dazu, was ich schreibe, aber ich will ungebunden sein. Ich war nicht in der Partei, nicht in der Solidarnosc, ich war nicht in der Gewerkschaft, ich war nicht im Journalistenverband und das ist bis heute so geblieben.

Was können Deutsche und Franzosen von Polen lernen?

Adam Krzeminski: Es geht nicht darum von Polen zu lernen, sondern darum, die ostmitteleuropäische und osteuropäische Geschichte anders kennenzulernen. Europa ist nicht Frankreich, England, Deutschland, Spanien, Italien und Russland. Es gibt enorme Lücken im Verständnis der ostmitteleuropäischen Geschichte, ob es um polnische oder ungarische handelt. Es geht sogar so weit, dass man aus diesem Grunde z.B. den Konflikt zwischen der Ukraine, Russland und dem Westen gar nicht versteht, weil man nach wie vor sehr westzentriert ist.

Deutschland und Polen haben sich aber genauso wie Frankreich und Deutschland angenähert.

Adam Krzeminski: Ich würde sogar sagen, dass diese deutsch-polnische Annäherung, der Dialog und die Versöhnung eine größere Rolle für Europa gespielt haben als die deutsch-französische. Obwohl man sagen muss, dass wir an diesem Beispiel vieles kopiert haben: Zum Beispiel waren die ein institutionelles Gerüst dieser Versöhnung das Jugendwerk und die Städtepartnerschaften. Den großen Unterschied jedoch kann man an der deutsch-französischen Erbfeindschaft“ erkennen, denn diese hat beide Länder zu gleichstarken Nachbarn gemacht. Mal waren die Preußen in Paris, mal waren Napoleon und seine Armee in Berlin. Es ist einfacher sich zu versöhnen, wenn die historischen Lasten und Verdienste ungefähr gleich sind.

Was ist der Unterschied mit Polen?

Adam Krzeminski: Das Problem von Polen ist, dass es bis 1918 auf der Landkarte nicht existierte und dadurch Deutschlands östlicher Nachbar Russland gewesen ist. Es ist viel schwieriger einen Nachbarn, den es nicht gab, zu einem Gleichberechtigten aufsteigen zu lassen, als einen, mit dem man zwar Kriege geführt hat, den man aber als gleichberechtigten Gegner bzw. Nachbarn sah.

In Deutschland haben die Polen manchmal den Ruf „unehrlich“ zu sein. Woher kommt eigentlich das Vorurteil?

Adam Krzeminski: Mit unehrlich ist wohl gemeint, dass sie klauen oder Autodiebe sind. Es gibt auch diese Redewendung "kaum gestohlen, schon in Polen". Ich will damit nicht sagen, dass es keine polnischen Autodiebe gab, aber es steckten dahinter überwiegend internationale Banden, die die Autos meistens nach Weißrussland, die Ukraine oder Russland verschoben: Polen war also ein Transitland. Bei diesen Klischees oder Vorurteilen findet man auch diese Vorstellung von einem unheimlichen, ungreifbaren Osten.

Warum?

Adam Krzeminski: Bis 1918 gab es, wie gesagt, keinen polnischen Staat, Polen war ein Niemand. Plötzlich war es präsent, aber mit anderen Grenzen: 1919, nach dem Ersten Weltkrieg, hat sich Polen den Danzig-Korridor, Posen, Oberschlesien, die bislang zu Deutschland gehörten, geschnappt. Plötzlich schob sich dieser schwächere Nachbar nach Westen vor. Und auch wenn Polen innerhalb von zwei Wochen den Septemberfeldzug 1939 verloren hat und von Deutschland besetzt wurde, änderten sich 1945, nach Ende des Zweiten Weltkrieges, wieder die Grenzen.

Und wie?

Adam Krzeminski: Polen landete bei Görlitz und Frankfurt an der Oder. Man kann also sagen, die Polen, die klauten uns Schlesien, die klauten uns Autos und klauten uns Arbeitsplätze.

Und das ist immer noch so? Europa

Adam Krzeminski: Ich habe den Eindruck, dass diese Klischees in den letzten zehn Jahren in Deutschland schwächer geworden sind. Der Begriff polnische Wirtschaft als der Inbegriff der Unordnung, der Unfähigkeit, eine funktionierende Wirtschaft und Gesellschaft zu errichten, funktioniert nicht mehr. Polen ist erfolgreicher geworden. Die Polenwitze, die man inzwischen auch in Polen erzählt, waren ein Schrittchen zur Normalität. Wir dürfen uns mehr leisten als früher.

 

Interview: Chloé, Clara, Jeanne und Leopold (Kinderredaktion Böser Wolf)

Zeichnungen: Alina, Coralie, Dagmara, Gaia, Clara, Ingrid und Natalia(Kinderedaktion Böser Wolf )

Foto: Grand méchant loup

© Grand méchant loup | Böser Wolf