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Ein Stolperstein für Anita Pilzer

German
Europakarte mit Berlin. Bild einer Schneiderin

Ein Stolperstein vor dem Haus und für das Haus

Vor dem Haus, wo wir, die Bösen Wölfe, arbeiten, wurde ein Stolperstein verlegt. Was bedeutet das für uns und was bedeutet das überhaupt? Darüber haben wir unter uns Kinderreportern und mit weiteren Hausbewohnern gesprochen.

Stolpersteine? Schon gekannt?

Ja, es gibt viele davon in Berlin. Schon als Kleinkind sind sie uns durch ihren Glanz aufgefallen. Und da sie auf dem Boden liegen, ist man als Kind näher daran.

Wozu sind Stolpersteine da?
Man erfährt etwas über die Geschichte des Hauses, insbesondere über eine Person, die hier gewohnt hat, man sieht ihren Namen, ihr Geburtsjahr, wann und wie sie gestorben ist. Die Steine sind ein kleines Kunstwerk, das uns an unsere Geschichte, auch an das jüdische Leben erinnern. Es soll nicht in Vergessenheit geraten, damit die gleichen Fehler nicht wiederholt werden.
Die Älteren interessieren sich mehr für diese Zeit, aber auch Kinder und junge Menschen sollten weiter Bescheid wissen.

Die Steinlegung
Um die 25 Personen standen um 16h vor dem Haus, Evelyn Hagenah, Initiatorin dieses Stolperstein-Projekts, sprach über den Verlauf der Zeremonie und über das Leben von Frau Pilzer, zwischendurch gab es Musik.
Die Recherchen von Frau Hagenah ergaben folgende Auskünfte:

Wer war Anita Hani Pilzer?
Alte NähmaschineAnita Hani Blume Pilzer wurde am 09. Februar 1882 in Oswiecim (dt. Auschwitz), Galizien geboren. In den 30-Jahren wohnte und arbeitete sie in der Apostel-Paulus-Straße 7 in Berlin. Sie war ledig und von Beruf  Modistin. Die Wohnung  bestand aus zwei Zimmern und einer Küche, in denen Anita Pilzer wohnte und ihre Schneiderei betrieb. Sie hatte zumindest eine Auszubildende, die nach ihrem Abschluss weiter mit ihr zusammen arbeitete. 1941 wurde Anita Pilzer von der Gestapo gezwungen, die Schneiderei zu schließen. Am 27. November 1941 wurde sie von Berlin, Bahnhof Grunewald nach Riga-Rumbula deportiert. Alle Personen dieses Transportes wurden unmittelbar nach Ankunft  am 30.11.1941 ermordet. 

Die Klarinettistin spielte drei Lieder.

Die Musikerin
Die Klarinettistin Lisa Mühlig spielte drei Lieder. Es war Klezmer Musik. Da es so wenige Angaben über Frau Pilzer gab, passte die Musik sehr gut und ließ Zeit zum Nachdenken. Das letzte Stück handelte von einer Schneiderin und wurde im KZ geschrieben. Es war sehr ergreifend.

Ein Stolperstein wird verlegtDer Steinleger
Parallel zur Lesung und zur Musik ging der Steinleger seiner Arbeit nach. Es war interessant zu schauen, wie der Stein verlegt wird. Die Oberfläche aus Messing ist 10 cm × 10 cm groß. Die sehr lange Unterseite ist aus Beton, wie die Wurzel einer Pflanze. Der Steinleger war mehr ein Künstler als ein Handwerker, er war sehr fürsorglich.

Der Stolperstein liegt zwischen den Vorder- und Hinterhauseingängen. Er folgt der Ausrichtung der Pflastersteine und zeigt nach rechts, dort, wo die Wohnung von Frau Pilzer vermutlich war. Er lädt so zum Eintreten ein. Seine Schräge ähnelt einem Mosaikstein. Er erinnert aber auch an das Chaos der damaligen Zeit.

Ein unerwarteter Gast
Matthias Steuckardt (von der Stadtverwaltung)  kam unangemeldet und hielt eine kleine Rede. Es war schön, dass auch jemand offiziell dabei war. Gute Geste.

Stolpersteine für Anita Pilzer

Wie war die Zeremonie zur Steinlegung?
Sie war sehr gelungen, das Wetter war auch gut. Es war für uns Jugendliche manchmal ein bisschen lang. Die Beteiligten sprachen leise, man spürte ein Zusammensein. Die Stimmung war andächtig und ernsthaft. Nichts war falsch oder aufgeblasen, wie es manchmal in Frankreich bei Gedenkfeiern der Fall ist.
Zwischendurch kamen Menschen mit ihren Kindern vorbei, die Luftballons und Kuchen mitbrachten, um im Park nebenan einen Geburtstag zu feiern. Die Erwachsenen erklärten den Kindern, warum sich die Leute auf dem Bürgersteig versammelt hatten.

Einige Fragen
Warum ist Anita Pilzer nach Berlin gekommen? Wegen ihrer Ausbildung? Einer Arbeit? Der Mode? Einer Liebe? Der Großstadt?
Es gibt keine Fotos von ihr.  Wie sah sie aus? Wie die jüdische Großmutter auf einem Foto, das Gesicht und die Kleidung aus der Zeit? Vielleicht trug sie einen Dutt? Sie war selbstständig, wohnte allein, also war sie eher eine dynamische Frau. Vielleicht klein und mit Hut. Es gibt viele Möglichkeiten und keine sichere Antwort.
Wie hat sie seit der Machtergreifung Hitlers gelebt? Kamen dann nur jüdische Kunden zur Schneiderei? Trug sie einen gelben Stern? Wie war es mit den Nachbarn? Haben sie weiter mit ihr gesprochen?
Womit überlebte sie, als sie die Schneiderei schließen musste? Hat sie an Flucht gedacht?
Haben Nachbarn gesehen, als sie abgeholt wurde und für immer verschwand? Was wurde aus ihrer Wohnung und ihren Sachen? Dachten manche Nachbarn an sie? Oder nicht, denn es war Krieg und jeder versuchte zu überleben und dachte nur an sich?

Wie ist es, in der Wohnung zu wohnen, wo jemand so viele Schikanen ertragen und so viele Ängste überstehen musste?
Wie hätten wir uns verhalten, wenn wir damals gelebt hätten? Wie würden wir uns jetzt in bestimmten Situationen für andere einsetzen?
Was macht es mit uns, wenn wir vor einem Stolperstein stehen?

Seit der Steinlegung
Der Stolperstein  ist glücklich verlegt. Fast alle sagen, sie sehen ihn jedes Mal, wenn sie hereingehen. Er kommt uns genau entgegen.  Man läuft um ihn herum, man will nicht darauf treten. Das Haus hat etwas zurückgewonnen, Anita Hani Pilzer gehört wieder dazu.

Interview: Benito, Benoît, Caspar, Claire, Mayumi und Théophile mit Hausbewohnern
Zeichnungen: Marie und Théophile
Fotos: Benoît
Text, Zeichnungen und Foto: © Grand méchant loup | Böser Wolf
Ein besonderer Dank an Evelyn Hagenah. Ohne ihr Engagement wäre das Projekt nicht zustande gekommen. Danke auch an alle Menschen, die bei der Steinlegung waren oder auf die eine oder andere Weise das Projekt unterstützt haben. Und natürlich auch an die Klarinettistin Lisa Mühlig.

 

Schneiderin an der Nähmaschine